Mit Staunen blicken wir auf die Gelbwesten in Frankreich, die seit November Woche um Woche für ihre Forderungen auf die Straßen gehen. Die Franzosen wehren sich gegen die Verschlechterung ihrer sozialen Lage als Folge innenpolitischer Reformen des Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Die Hintergründe der Bewegung erläuterte Waltraud Schleser beim Politischen Frühstück von attac Düsseldorf am 7. April 2019.
Die Erhöhung der Kraftstoffpreise hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Was dem vorausging, beschrieb Waltraud Schleser (Attac Mitglied): Staatspräsident Macron hatte im Sommer 2018 verschiedene Arbeitsmarktreformen zugunsten der Unternehmer auf den Weg gebracht und die Vermögenssteuer ISF auf liquides Vermögen und auf Luxusgüter abgeschafft. Zudem war er mit überheblichen Äußerungen gegenüber Arbeitsuchenden aufgefallen.
Die Bewegung der Gelbwesten nahm ihren Anfang auf dem Land – dort, wo die Infrastruktur in den vergangenen Jahren abgebaut und der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt worden war. Macrons Benzinsteuer führte dort zu Unmut, da die Klimaverbesserung nicht auf dem Rücken der kleinen Leute erreicht werden solle. Was mit einem Video und einer Petition auf Facebook begann, weitete sich rasch zu einer landesweiten Protestbewegung aus.
Miteinander am Kreisverkehr
Der Autoverkehr bildete das Ausgangsthema. So wurden Kreisverkehre und Mautstellen besetzt, Autos und LKW angehalten, und auch das Symbol – die gelbe Warnweste – ist ein Accessoire, das jede/r Autofahrer/in im Fahrzeug hat. Aber – so die Referentin – auch die “Convivialité”, das Miteinander, spielt eine große Rolle und ermöglicht Arbeitslosen und Rentner*innen, neue soziale Kontakte zu knüpfen.
Wer sind die “Gilets jaunes”?
Waltraud Schleser zitierte eine Studie, nach der Frauen die Hälfte der Bewegung ausmachen, ein Drittel der Gelbwesten sind Angestellte, ein Viertel Rentner. Es seien nicht die typischen Gewerkschaftsmitglieder, sondern ärmere Teile der Bevölkerung, die sich häufig als weder rechts noch links bzw. als apolitisch bezeichneten und eine starke Ablehnung gegenüber Parteien und der Regierung verspürten. Infiltrierungsversuche gebe es sowohl von politisch links stehenden als auch von extrem rechts stehenden Gruppen.
Macron reagiert
Im Dezember hat Emmanuel Macron die umstrittene Benzinsteuer zurückgenommen und weitere Maßnahmen verkündet, wie die (steuerfinanzierte) Erhöhung des Mindestlohns und den Wegfall der Abgaben auf Überstunden-Zuschläge. In den Rathäusern lagen Beschwerdehefte aus (“cahiers de doléances” – ein bereits im Vorfeld der Französischen Revolution verwendeter Begriff), in denen die Bürger*innen ihre Forderungen aufschreiben konnten. Weitergehende Forderungen aus den Reihen der Gelbwesten sind: die Senkung von Steuern und Abgaben, die Senkung des Rentenalters, die Senkung der Gehälter von Politiker*innen und hohen Beamt*innen, aber auch ein Referendum für mehr Mitsprachrechte, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und auch der Rücktritt Macrons.
Aufgrund des Drucks der andauernden Proteste organisierte die Regierung eine große Debatte mit der Bevölkerung, an der sich Millionen von Bürger*innen beteiligten und deren Ergebnisse demnächst erwartet werden.
Polizeigewalt – die UN Menschenrechtskommission ermittelt
Währenddessen gibt es, wie Waltraud Schleser berichtete, bei den samstäglichen Demonstrationen Gewaltausbrüche und Schäden. Die Regierung reagiert mit dem Einsatz von immer mehr Polizist*innen, mit Demonstrationsverboten und (verfassungswidrigen) Aufenthaltsverboten für bestimmte Schichten von Demonstrant*innen. Durch das rigorose Vorgehen der Polizei und deren Einsatz von Gummigeschossen und Blendgranaten haben mehr als 20 Personen ein Auge verloren. Mittlerweile verlangt die UN Menschenrechtskommission von Frankreich eine Untersuchung der Polizeigewalt.
Wie wird es weitergehen?
Waltraud Schleser berichtete, dass die Gelbwesten-Bewegung häufig Personen ablehnt, die politische Strukturen schaffen wollten und dass die Sprecher*innen untereinander zerstritten sind. In der Bevölkerung seien seit dem Beginn der Bewegung die Unterstützer*innen zurückgegangen, aber es gebe immer noch große Sympathien. Und das Jahr 2019 biete noch viel sozialen Sprengstoff: So plant Staatspräsident Macron, das Rentenalter weiter zu erhöhen, die Arbeitslosenversicherung in ihrer Bezugsdauer und Höhe zu verschlechtern, den Beamtenapparat umzubauen. Außerdem will er die Steuer auf Wohnraum (Taxe d’habitation), die für Menschen mit geringem Einkommen bereits abgeschafft war, nun für alle abzuschaffen, was Städte und Gemeinden vor Schwierigkeiten bei der Finanzierung von Infrastrukturprojekten stellen wird.
Das System im der Krise
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wies eine Teilnehmerin darauf hin, dass in Frankreich 90% der Medien 10 Milliardären gehörten, und Frankreich im Länder-Ranking der Pressefreiheit nur auf Platz 33 stehe. In mehreren Redebeiträgen wurde die tiefe Entfremdung zwischen Volk und Staat in Frankreich festgestellt, die sich zu einer Krise der Demokratie ausgewachsen hat. Es gebe einen starken Wunsch nach Gerechtigkeit gegenüber den als arrogant wahrgenommenen Eliten.
“Die Systemfrage ist gestellt, es muss eine neue Verfassung her”, sagte eine Teilnehmerin. Dabei ließen sich ökologische und soziale Forderungen nicht gegeneinander ausspielen: ob “fin du mois” (also die Frage, wie man am Monatsende finanziell über die Runden kommt) oder “fin du monde” (d.h. das Ende der Welt, das ohne Klimaschutzmaßnahmen droht) – das ist derselbe Kampf. Ein deutliches Zeichen, wie tief das Problem verwurzelt ist, sei darin zu erkennen, dass viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrierten, darunter auch viele Frauen.